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Die unwiderstehliche Kraft des Experimentierens

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Wir alle stecken gerade in einem großen Experiment, in zahllosen Experimenten. Die Arbeit die virtuell aus dem Home Office organisiert wird. Der eingeschränkte Bewegungsradius, wir sind so lokal wie lange nicht. Der neue Zusammenhalt. Der komplette Wegfall des eigenen Geschäfts – was mache ich jetzt?

Man kann das alles als Gefahr sehen und den Moment herbeisehnen, dass alles wieder ‚normal‘ wird. Gleichzeitig wird das neue Normal nach Corona anders sein als was früher war. Denn Experimente entfalten meist eine unwiderstehliche Veränderungskraft. Dem kann man zuschauen. Oder wir können diese Zeit, diese Experimente als Gestaltungsraum nutzen. Da, wo das gerade passiert, entsteht Eindrucksvolles, finde ich.

 

Experimentieren wirkt

Experimente entfalten, glaube ich, ihre Wirkung über drei Mechanismen:

  • Experimente machen uns zu Gestaltern und Forschern. Wenn man das Experiment als solches ernst nimmt, dann sind wir darin automatisch Gestalter und Forscher. Wir gestalten den ‚Input‘, könnte man sagen, das, was wir anders denken und tun. Und wir sind forschend neugierig auf die Wirkung, so dass wir daraus für das nächste Experiment lernen können. Die Essenz dieses Gestaltens und Forschens liegt darin, dass wir uns einen Raum schaffen, um unsere Wirksamkeit sichtbar zu machen – da, wo die Wirkung unseres Handelns im Alltag so oft unsichtbar ist.
    Im Normalmodus macht man oft einfach das, was man immer macht – die Sitzung mit dem Team, das Meeting, das Aufsetzen einer neuen Initiative oder Kampagne. Man macht das ‚wie immer‘, das sorgt für Effizienz, Vorhersehbarkeit. Aber weiß man genau, was die Teamsitzung mit den anderen Teammitgliedern macht? Wie das Meeting ein Schritt in Richtung Erreichen der Organisationsziele ist? Wie die Initiative wirklich wirkt? Je komplexer die Organisation, desto unsichtbarer ist oft die Wirkung des individuellen Handelns.
    Experimente schaffen einen bewussten Raum, die Wirkung von Handeln unter die Lupe zu nehmen. Sie verbinden einen mit der eigenen Wirksamkeit – und fordern heraus, zu lernen. Diese Möglichkeit zu gestalten, zu wirken und zu lernen ist meist unwiderstehlich.
  • Experimente sind fehlertolerant. Wer experimentiert, muss es noch nicht genau wissen. Und nur wer sich zugesteht, es noch nicht genau zu wissen, kann Neues herausfinden.
  • Experimente schaffen Erfahrungen, was möglich ist. Wo es bis jetzt undenkbar war, dass der Vorstand sich über Videoschalte trifft statt live, entsteht eine neue Erfahrung. Denn natürlich ist es möglich, ein Treffen über Videokonferenz abzuhalten. Die Erfahrung sorgt für eine differenziertere Einschätzung der Vor- und Nachteile. Sie ersetzt ‚unmöglich‘ mit „in diesen Fällen, unter diesen Bedingungen, produktiv“. Nichts entwickelt größere Veränderungskraft als das Erfahren einer Alternative zum Status Quo.

 

Was lernen wir aus den ungewollten Experimenten?

Jeder und jede wird aus den eigenen Experimenten lernen, in aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen. Gleichzeitig gibt es ein paar Einsichten, die mir in den letzten Tagen mehrmals begegnet sind:

  • Die Arbeit im Home-Office führt nicht zum Zusammenbruch der Organisation: Es ist eher erstaunlich, wie viel geht, wie viel Produktivität vorhanden ist. Die Probleme, die auftauchen, sind eher technischer Natur – Zugang zu Dateien und Arbeitsinstrumenten.
  • Der zugenommene Raum führt nicht ins Chaos, sondern in Kreativität: An vielen Stellen ist Management-Kontrolle schwieriger geworden. Die Sorge, dass das zu unvernünftigen, chaotischen, ‚jeder-macht-was-er-will‘-Situationen führt, bewahrheitet sich nach jetziger Beobachtung nicht; eher entstehen interessante neue Ideen und Initiativen.
  • Der Zusammenbruch hat reinigende Wirkung: An vielen Stellen sind wir in kürzester Zeit von hundert auf null gegangen. Auf persönlicher wie organisationaler Ebene sehe ich erste Bewegungen, diese Chance zu nutzen für einen intentionalen radikalen Wandel. Wann, wenn nicht jetzt, kann man die Produktlinie beenden, die sowieso nicht mehr lief? Wann, wenn nicht jetzt, kann mein sein Geschäftsmodell, das gerade sowieso ein Komplettausfall ist, neu erfinden? Wann, wenn nicht jetzt, kann jeder die persönlichen Prioritäten neu definieren?

 

Was lernen wir über das Experimentieren?

Nur weil wir gerade Dinge ausprobieren, ist es nicht automatisch produktiv. Wir lernen meiner Meinung nach auch gerade, was es zum erfolgreichen Experimentieren braucht:

  • Der Raum begrenzter Konsequenzen: Da, wo die Existenzängste zu groß sind, die möglichen Verluste lebensbedrohend, die Folgen von Fehlern unabsehbar, entsteht keine Kreativität, sondern eher Starre. Wer sich die jetzige Lage zunutze machen will, arbeitet daran, Raum zu schaffen – und das heißt auch, die Konsequenzen des möglichen Scheiterns zu begrenzen. Dabei geht es immer sowohl um den tastbaren Raum – wenn kein Geld mehr auf dem Konto ist, dann ist es auch nicht da und entstehen wirkliche Probleme – als auch um den wahrgenommenen Raum – wenn man sich nur auf seine Sorgen fokussiert, auf das was schief gehen könnte, dann werden die auch überlebensgroß.
  • Lass‘ tausend Blumen blühen: Wer schnell Gewissheit und eine eindeutige Antwort will – „Ist Home-Office eine gute Idee?“ – gerät in die Gefahr, die Essenz zu übersehen. Gut hinschauen hilft. Denn an der einen Stelle funktioniert etwas, das woanders nicht geht. An der einen Stelle wird für ein Problem eine Lösung gefunden, an der zweiten Stelle löst man es anders. Gerade die Vielfalt der gleichzeitigen Ansätze und Lösungen beschleunigt das Lernen. Und nur wer mit forschender Neugier draufschauen kann wird das Neue auch entdecken.
  • Die Kraft von Verbindung: Experimente in Isolation bewegen nur die Beteiligten. Wir erleben gerade die Kraft von Verbindung: Auf allen möglichen Plattformen, innerhalb von Organisationen und noch mehr über ihre Grenzen hinweg werden Informationen und Erfahrungen in den (unfreiwilligen) Experimenten geteilt. Die Geschwindigkeit, mit der neue Einsichten, Tipps und Tricks, Ideen und Deutungen sich verbreiten, ist atemberaubend. 

 

Im Chinesischen soll das Schriftzeichen für „Krise“ aus den Bestandteilen „Gefahr“ und „Chance“ bestehen, habe ich einmal gelesen.

Wie wäre es, wenn wir uns durch Experimentieren aus der Gefahr in die Chance bewegen?